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17.07.2004

2004 Der Orchesterkoffer

von Rainer Viertel

Ich bin der Orchester–Koffer.

Ich wiege 40 kg, weil ich das Zubehör für den Schlagzeuger beherberge.

Beide Sicherungsriemen sind gerissen, die Seiten klaffen, das Leder ist abgeschabt.

Doch ohne mich geht’s nicht los. Und wenn eine gutmütige Seele meine Last zur Bühne geastet hat, dann warte ich in der Ecke und beobachte ...

Der Auftritt beginnt mit einem Chaos und endet mit demselben.

Zuerst kommen die Flöten–Damen und führen die Instrumente an ihre schönen Lippen.

Die Geigen werden ausgepackt, den Hörnern in Brusthöhe der erste Ton entlockt, die Oboe gibt ein A von sich und endlich ... endlich haben es auch die großen Bässe geschafft, anzukommen. Aus schwarzen Särgen werden gewaltige Geigen entnommen, die nur Männer ab 1,90 m bedienen dürfen.

Mit ernster Mine geht es ans Werk – unübersehbar hinten rechts.

Sensible Frauen an sensiblen Geigen und Bratschen  heben den Bogen und ... im Nu ist aus dem Chaos ein strukturiertes Zusammensein geworden –

Menschen, die bereit sind, aufeinander zu hören und miteinander etwas Neues zu schaffen:  Das heutige Konzert.

 Plötzlich steht der gerade Mann mit dem winzigen Stock vor ihnen.

Auf ihn schauen sie. Von ihm erwarten sie etwas. Aber was?  

Die Probe beginnt und schon unterbricht der Mann.

Kurze Worte, die nur Musiker deuten können, treffen auf  konzentrierte Gesichter. Und schon startet der nächste Versuch.

Für mich klingt alles schön, doch der schlanke Herr scheint die krumme Nadel im Melodien-Heuhafen zu suchen....und zu finden.

Nun folgen Spielen und Abbrechen und Spielen und Abbrechen und ... Lachen !

Eine Bemerkung schwirrt über die Köpfe, die alle entspannt lachen lässt.

Ist die Sache doch nicht so ernst, wie die schwarzen Roben glauben machen wollen?

Alle folgen dem Herrn mit der tadellosen Haltung.

Was hat er mehr als Andere?

Vielleicht ist es der Überblick, den das 20 cm hohe Podest gewährt? Vielleicht ist es die Erfahrung, der Blick für Höhen und Tiefen, für Gefahren und ebene Wege?

Die Probe endet. Man isst Banane und Apfel. Gruppen schwatzen, Männerhosen fallen diskret in der Ecke und werden gegen das obligatorische Schwarz getauscht.

Damen verschwinden in der Toilette und tauchen elegant wieder auf.

Niemand lärmt, die Konzentration schwebt über den notenschwangeren Köpfen. „Wie viele werden kommen? Voriges Jahr hatten wir 20 Besucher in...“

Man geht hinaus – über den Platz – Beifall! Alle Stühle sind besetzt – Erleichterung!

Man setzt sich. Jeder hat etwas zu tun. Die letzte Klammer gegen den Wind wird angebracht.

Man schaut und sieht erwartungsvolle Gesichter.

Was denkt der Musiker jetzt? Spannung legt sich wie ein Netz über das Orchester. Ein Team von Gleichgesinnten.

Jetzt gilt es, zusammen gut zu sein.

Stille.

Die Besucher schauen nach vorn, die Musiker schauen zurück oder in die Noten (sind es auch die richtigen?).

Applaus.

Der Dirigent bewältigt mit wenigen Schritten die Distanz vom Unsichtbar-Sein zum Podium – Verbeugen – Drehung – Warten (was liegt vor ihm?) – Warten  - Arme hoch – die Bögen der Geiger schnellen in die Höhe – Einklang – und los geht’s.

Das ist es, weshalb sich 14 Stunden Bus fahren lohnen, das Ein- und Auspacken und Herumziehen, das Schlecht-Geschlafen-Haben, das Pünktlich-Sein, der bohrende Kopfschmerz....das ist es, wofür das Leiden lohnt, das Unterordnen, das Ertragen von  Schwächen...

Das erste Stück ist geschafft. Der Durchbruch?

Die Einsätze kamen richtig, die Töne stimmten, erstes Aufatmen.

Das Publikum dankt.

Der gerade Herr hebt die Arme – und weiter geht es.

Die Melodien schweben, man kennt das Stück und freut sich.

Der erste Geiger führt. Die Mannschaft folgt ihm. Die Hörner behaupten sich. Die Oboe setzt ein und nimmt alle mit sich. Die Flöten begleiten und nun

kommt die Klarinette und spielt sich in die Herzen. Die Celli schmeicheln. Die Bässe sind immer zugegen. Das Blech kommt...die

Geigen...die Flöten...die Pauke...und: Schluss.

Der Beifall braust auf – geschafft!

Das Publikum belohnt, der Dirigent kommt und geht.

Die 1. Zugabe. Die 2. Zugabe. Verbeugen. Aus.

Ein gutes Gefühl. Fragen: Wie waren wir? Gut? Aber...das hat nicht geklappt und...trotzdem!

Die Leute sind noch nicht alle gegangen, da verwandeln sich Musiker in Mechaniker.

Jeder schraubt, zieht, verpackt. Schwarze Roben wuseln kontrolliert durcheinander. Die Flöten sind weg. Die Geigen gehen und wieder mühen sich die Bässe ab und schleppen ihre gewaltigen Instrumente nach draußen.

Entspannung! Reden, Laufen zum Bus, Gespräche (vereinzelt mit Zuhörern). Abfahrt.

Das war’s und wird es immer sein...solange die Füße tragen und die Hände den Bogen führen können und die Augen die Noten sehen und die Ohren hören...

Musiker sein ist schön!

Beneidenswert.